Deutsche Denkweise

Ideenaustausch zum Thema Leben in Finnland.
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Sid
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Deutsche Denkweise

Beitrag von Sid »

:lol:

Aus gegebenen Anlass werfe ich mal eine Frage in die Runde:

- Habt ihr die "deutsche Denkweise" abgelegt, seitdem ihr in Finnland lebt?
- Was ist typisch für das "deutsche Denken"?
- Wie unterscheidet sich das deutsche Denken vs. finnische Denken?
- Stört das "deutsche Denken" bei einer erfolgreichen Integration in die finnische Gesellschaft?
- Muss man das "deutsche Denken" ablegen, wenn man in einem fremden Land lebt?
- Haben Euch Finnen je deswegen abgelehnt / ausgegrenzt?

Ich bin gespannt auf Eure Erfahrungen? :)
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Antje
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Re: Deutsche Denkweise

Beitrag von Antje »

Uff, Sid, das ist ja ein dicker Brocken für Sonntagabend...
Sid hat geschrieben:

- Was ist typisch für das "deutsche Denken"?
Ich weiss es nicht. Ich glaube es gibt aufgeschlossene und engstirnige Denker in jeder Gesellschaft.

Mein Mann (Untertan ihrer Majestät Lizzy II) meint, ich sehe oft gleich das Negative. Ich nenne es potentielle Probleme abwiegen. Irgendwo habe ich mal gelesen, das wäre ein Faktor des dt. Denkens - geschätzt in Geschäftserhandlungen...

Hm, seit 12 Jahren arbeite ich daran, zuerst das Positive zu sehen und die potentiellen Probleme für mich zu behalten und später anzubringen. Klappt immer noch nicht ganz. Also nein, ich kann dieses Denken nicht ablegen.

Mein Mann hat sin britisches Denken in D auch nicht abgelegt, darüber bin ich froh! Ich sähe nicht nur potentielle Probleme auch mich zukommen, würde er anders denken, nur weil er in einem andern Land lebt... :wink:

Bisher habe ich mich nicht ausgegrenzt gefühlt, im Gegenteil meine finn. Freunde sind sehr an meiner Meinung interessiert, gerade weil sie von aussen kommt und anders ist.


Vielleicht sollte man versuchen, immer zuerst den Menschen zu sehen und nicht den Deutschen oder Finnen (oder sonstige Nationalitäten), aber das ist wohl eher etwas für aufgeschlossene als engstirnige Denker... :wink:
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Micha
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Beitrag von Micha »

Sid,

Du stellst ja viele Fragen!
Ich tu' mich ehrlich gesagt ein wenig schwer mit dem Begriff "deutsch denken". Kannst Du uns genau sagen, was Du mit "deutscher Denkweise" genau meinst?
Es geht Dir wohl um einen Vergleich der (Lebens-)Einstellung zwischen Deutschen und Finnen, oder?
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Georg

Beitrag von Georg »

Das ist in der Tat ein sehr heikler und vielschichtiger Themenkomplex. Im Prinzip berührt die gleiche Problematik wie seinerzeit die Frage nach einer deutschen Leitkultur in Deutschland.

Eigentlich finde ich die finnische Idee des "Maassa maan tavalla" (im Land nach der Art/Sitte des Landes) sehr gut. Das besagt meiner Auffassung nach nicht, dass man seine Herkunft quasi aufgeben müsse, sondern gibt nur eine Rangfolge vor. Zunächst gelten die hiesigen Sitten, und dann die fremden. Ich kann also, mit gewissen Einschränkungen, meine eigenen Sitten befolgen, solaange ich nach außen die hier geltenden beachte. Für einen Deutschen ist das in Finnland sicherlich auch deutlich leichter als für einen Somali in Finnland oder einen Türken in Deutschland.

Ich habe persönlich bisher auch keinerlei negative Erfahrungen gemacht, wenn ich die Linie befolgte. Ganz im Gegenteil, wie Antje schon schrieb, habe auch ich eher Finnen getroffen, die gerade den Standpunkt eines Ausländers hören wollten.
Sid
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Beitrag von Sid »

Micha hat geschrieben:Sid,
Kannst Du uns genau sagen, was Du mit "deutscher Denkweise" genau meinst?
Das versuche ich gerade herauszufinden :) . Wie versteht dies jeder für sich persönlich? Zählt dies überhaupt, oder zählt einfach der Mensch selbst, der in der Fremde einfach zurecht kommt oder auch nicht?

Zu meiner persönlichen Erfahrung: Ich vergleiche gerne die Ähnlichkeiten und die Unterschiede verschiener Nationen. Einer einzelnen Person gegenüber bringe ich keine Klischees entgegen, sondern sehe die/den als Menschen.

Meine Denkweise ist schon etwas kritisch und ich habe keine Berührungsängste meine Meinung zu sagen. Gerade dafür interessieren sich manche Finnen, weil sie gerne erfahren möchten, wie sieht man sie von "aussen". Mag sein, dass es gerade typisch für uns Deutsche ist. Ich finde es aber nicht unbedingt vorzüglich, sich zwanghaft wie die andere Nation zu verhalten. Sie zu verstehen - schon.

Am schlimmsten finde ich, das eigene Land zu verwerfen, geschweige denn es schlecht zu machen mit allen Mitteln. Auch wenn man manche Eigenschaften des "fremden" Landes für sich nicht akzeptiert (z.B. Manieren, Verschlossenheit), arrangiert man sich damit, muss aber selbst nicht so werden. Allerdings ist die Gefahr gross, unbewusst diese Eigenschaften einzunehmen, da man jeden Tag damit konfrontiert wird.

Wie Antje schon sagte, um beides leben zu können, braucht man offene Menschen. Ich hab nur eine ungünstige Vorkommnis zu verzeichnen, aber es basierte auf einem völlig engstirnigen Hass einer Finnin Deutschen gegenüber. Es wird einem bewusst, wie destruktiv sowas wirken kann.

Meine Devise: aus jeder Quelle das beste für sich lernen und gewinnen. :idea:
koala
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Beitrag von koala »

Hallo,

welche ein tiefgehendes Thema... :-)
Kannst Du uns genau sagen, was Du mit "deutscher Denkweise" genau meinst?
Wahrscheinlich sind damit die kulturellen Eigenheiten und sonstigen Eigenschaften gemeint...

Ich glaube nicht, dass "deutsches Denken" irgendwelche negativen Einflüsse hat, wenn man hier in Finnland ist. Im Gegenteil, meiner Erfahrung nach führt das immer wieder zu ganz netten Unterhaltungen über Denkweisen, Kultur usw. Manchmal natürlich trifft man damit auch auf Unverständnis bzw. vielleicht sogar Mißverständnisse.
Auch ist es wohl so, dass man mehr dieser fremden Eigenschaften annimmt, je länger man in der Fremde ist... also, so lange man sich nicht ausgrenzt. Das wäre natürlich nicht gut.

Um mehr auf diesem Gebiet zu erfahren, sollte man ernsthaft die Sprache lernen und benutzen. Das klingt jetzt vielleicht ganz abwegig, aber ich bin wirklich der Meinung, dass die Sprache und damit der Umgang mit Finnen in der fremden Sprache am meisten auf diesem Gebiet (Kultur, Bräuche, Eigenheiten, etc.) hilft. In vielen Fällen lernt man ohne weiteres zutun so viel über das finnisches Denken, wenn man nur einfach mal genau darauf achtet, wie Finnen bestimmte Dinge ausdrücken...
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Antje
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Beitrag von Antje »

"Georg"]
Eigentlich finde ich die finnische Idee des "Maassa maan tavalla" (im Land nach der Art/Sitte des Landes) sehr gut.
Ich stimme zu. Ich finde, man muss aber noch unterscheiden zwischen öffentlichen und privaten Sitten. Ich werde z.B. Weihnachten immer auch am 25.12. feiern, weil das so Sitte im Lande meines Mannes ist (so bekommen unsere Kinder 2 Bescherungen :wink: ). Dies wird mir keiner krumm nehmen, denn es sieht ja keiner, noch schränkt es irgendjemanden ein noch beleidigt es seine Ansichten und Einstellungen.

Anders mit den öffentlichen Sitten: das hat ersteinmal mit Respekt zu tun. Das heisst: ich bin im neuen Land und schaue mich erstmal still und aufmerksam um, wie die Dinge hier laufen. Allerdings stellt es sich als schwierig heraus, öffentliche Sitten herauszufinden. (z.B. dass auf Festlichkeiten wie Taufen o.ä. eigentlich der Pfarrersfrau der erste Tee eingegossen wird, oder muss sie den Tee eingiessen?? Ihr seht : es ist kompliziert :D ) Das sind nicht besonders lebensrelevante Sitten und jeder aufgeschlossen denkende Mensch wird es keinem Ausländer übelnehmen, wenn er gegen solche spezifischen Sitten aus Unwissenheit verstösst.
Aber auch die alltäglichen Gepflogenheiten muss man erstmal erkennen bevor man ihnen entsprechend handeln kann. Das kann ein langer, mit Fettnäpfen gespikter Weg sein...

Tja, wie ist es aber nun mit Sitten, die man selbst als Unsitten empfindet, wieweit kann Akzeptanz gehen ohne seinen eigenen Prinzipien entgegen zu handeln oder sich selbst untreu zu werden? Uns im gemässigten, demokratischen, christlich-westlichen Kulturkreis stellen sich solche Gewissensfragen nicht allzuoft und ich stimme Georg zu, dass es andere Kulturen da schwerer haben.

Knackpunkt ist wohl, was man als "Sitte" beschreibt und ob durch sie andere auch mit Respekt behandelt, nicht einschränkt oder beleidigt werden.
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Sid
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Beitrag von Sid »

Ich habe letzte Woche an einer Vorlesung meiner Gewerkschaft teilgenommen. Es ging um den finnischen Knigge. Titel "Arjen ja työelämän tapatietoudesta kytännönläheisesti". Es ging auch um "Maassa maan tavalla". Ein sehr lebhafter Trainer, allerdings haben mir manche recht radikale Ansichten zu denken gegeben. Es ging um einen Kindergarten, der dazu verpflichtet wurde Schweinsstatuen aus dem Spielgarten zu entfernen, weil zwei Kinder islamisch waren. Er war sehr erbost, dass sich finnland so leicht "verbiegen" lässt. Zweiter Fall, ein islamischer Diplomat, der Tarja die Hand nicht reichte. Seiner Meinung nach sollte es in Finnland respektiert werden, wenn man zur Gast ist. Also ganz nach dem Sprichwort. Allerdings bezweifle ich, dass Tarja je in islamische Länder verschleiert aufgetaucht ist :? Gerade auf diesem Level ist es zuviel des Guten.

Natürlich muss man sich anpassen, aber alles würde ich um nichts in der Welt aufgeben. Sitte ist, kaum fremde zu grüssen, kaum Höflichkeiten wie Tür aufhalten. Ich tue es doch, wenn es mir danach ist, denn ich will nicht so unfreundlich (oder was auch immer dahinter steckt) werden, wie hierzulande. Sorry. Sich zu intergrieren heisst nicht, sich selbst und eigene Kinderstube aufzugeben, wenn es im Lande anders gehandhabt wird. Ich finde vielmehr kann man im eigenen Land von Fremden (und im fremden Land) gegenseitig lernen. Das ist nützlicher als die eigene Manieren verkrampft durchsetzen zu wollen. Finnen in anderen Ländern hab ich auch zugenüge beobachten können. Da halten sie es mit dem Sprichwort überwiegend nicht mehr so genau.

Ich teile Antjes Meinung, private Gewohnheiten muss man nicht ablegen.
Markus
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Beitrag von Markus »

Den einzigen potentiellen Konfliktpunkt zwischen "deutschem" und "finnischem" Denken sehe ich höchstens ab und dann (und dann auch nicht allzu wild) in der hiesigen "Mono-Kultur". Bei "uns" kocht ja jeder irgendwie sein eigenes Süppchen/ kümmert sich um Dinge auf seine eigene/ individuelle Weise. Dieses "individuelle" Denken kann machmal zu Befremden auf der finnischen Seite führen. "Warum macht der das jetzt total anders, wenn man das doch eigentlich SO machen müsste, wie alle anderen auch!" :P
Mit der Zeit hat man sich wohl auch etwas mehr "ent-individualisiert" hier...aber auf private Gepflogenheiten sollte man das wirklich nicht ausdehnen (müssen).
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Norbert
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Re: Deutsche Denkweise

Beitrag von Norbert »

Sid hat geschrieben::lol:

Aus gegebenen Anlass werfe ich mal eine Frage in die Runde:

- Habt ihr die "deutsche Denkweise" abgelegt, seitdem ihr in Finnland lebt?
- Was ist typisch für das "deutsche Denken"?
- Wie unterscheidet sich das deutsche Denken vs. finnische Denken?
- Stört das "deutsche Denken" bei einer erfolgreichen Integration in die finnische Gesellschaft?
- Muss man das "deutsche Denken" ablegen, wenn man in einem fremden Land lebt?
- Haben Euch Finnen je deswegen abgelehnt / ausgegrenzt?

Ich bin gespannt auf Eure Erfahrungen? :)
ich schreib meine Erfahrungen bzgl. der Fragen in umgekehrter Reihenfolge:
- die Finnen grenzen direkt kaum jemanden aus, obwohl ab und an kommt der berühmte Spruch: das können nur Finnen verstehen ... und so weiter
- gehirnwäsche hilft :)) ...
- Witze und Humor unterscheiden sich dann schon, wenn man nicht nur über finnische Witze lacht, sondern diese Witze auch wirklich versteht.
zB. Loriot kam zumindest zur Hälfte recht gut an bei den Finnen, während
Otto und seine Zwerge dann nur bei den Klamauk-Einlagen Anklang fand.
Andersherum: ob Lordi nun recht witzig ist oder nur hype oder wie auch immer unterscheidet nicht nur die Altersstufen sondern auch die Nationen.
- Deutsch bleibt Deutsch und Brautkleid bleibt Brautkleid und Blaukraut bleibt Blaukraut :))

Norbert
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Antje
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Re: Deutsche Denkweise

Beitrag von Antje »

Norbert hat geschrieben:[
- die Finnen grenzen direkt kaum jemanden aus,
nein, sie haben sie feine Art der leisen Zenophobie entwickelt. Direkte Ausländerfeindlichkeit wäre ja "unhöflich"...
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